Personifikationen

Frau Kunst vor Gericht

Kunst und Wissenschaft

Konrad von Würzburg: Die Klage der Kunst
Strophe 9

Dâ saz Erbarmeherzekeit
frî vor missetæte,
diu Triuwe was dâ wol becleit
und ouch diu glanze Stæte.
ouch vant ich ‹dâ› Bescheidenheit
in wünneclicher wæte:
die viere wâren wol bereit,
vil guot was ir geræte.

Übersetzung
Strophe 9

Da saß Barmherzigkeit,
frei von jeder Missetat.
Die Treue war schön bekleidet
und auch die herrliche Beständigkeit.
Außerdem fand ich dort Bescheidenheit
in wunderbarer Kleidung.
Die vier waren gut gerüstet,
sehr gut war ihre Ausstattung.

Konrad von Würzburg: Die Klage der Kunst
Strophe 10

Dô saz frou Güete gallen frî,
der crône was gewieret,
Êr unde Milte ich vant dâbî
nâch wunsche wol gezieret.
an die vil werden frouwen drî
wart von mir vil gezwieret:
si bluoten als ein rôsenzwî
daz ûf der heide smieret.

Übersetzung
Strophe 10

Da saß Frau Güte frei von Galle,
deren Krone war mit feinen Drähten geschmückt.
Êre und Milte fand ich
schön geschmückt dabei.
Die sehr würdigen drei Damen
schaute ich mehrfach verstohlen an:
sie blühten wie ein Rosenzweig,
der auf der Heide lacht.

Konrad von Würzburg: Die Klage der Kunst
Strophe 11

Dâ saz frou Scham diu reine fruht
frî vor itewîze,
von der man seit daz ir genuht
für alle tugende glîze.
dâ saz frou Mâze und ouch frou Zuht,
diu lûter und ‹diu› wîze;
si hæte kiusche an sich gedruht
mit herzeclichem flîze.

Übersetzung
Strophe 11

Da saß auch Frau Scham, die reine Frucht,
frei von Tadel,
von der man sagt, dass ihre Fülle
vor allen Tugenden glänzt.
Da saßen Frau Mâze und auch Frau Zuht,
die Reine und die makellos Weiße,
sie hatte die Keuschheit
ganz innig an sich gedrückt.

Konrad von Würzburg: Die Klage der Kunst
Strophe 12

Dâ saz ân alle missetât
ouch bî der küniginne
Wârheit und ir vil hôher rât
und ouch gerehtiu Minne.
swaz edeler tugent namen hât,
daz was dâ mit gewinne:
unz an die Kunst, der was ir wât
zerbrochen ûze und inne.

Übersetzung
Strophe 12

Da saßen bei der Königin
ohne jedes Vergehen
die Wahrheit sowie ihr hoher Rat
und auch die gerechte Minne.
Alles, was bei edlen Tugenden Rang und Namen hat,
war dort vorteilhaft erschienen:
bis auf die Kunst, der war ihre Kleidung
innen und außen zerrissen.

Alle für eine, eine für alle

Ein kaputtes Kleid und große Klage am Tugendgericht: Im vorliegenden Text werden gleich mehrere Personifikationen ausführlich beschrieben, die miteinander zu Gericht sitzen.

Das Augenmerk liegt dabei auf ihrer prächtigen Kleidung, vorbildlichen Tugendhaftigkeit und außerordentlichen Schönheit. Die Frauen sind einander freundschaftlich verbunden, nehmen sich in den Arm und sind sich im Gespräch zugewandt. Dazu beschreibt der Text, dass sie Kronen mit Namensschildern tragen, so dass man sie identifizieren kann. Auch Frau Kunst wird in dieser Aufzählung genannt, wodurch ein offenkundiger Konfliktpunkt Einzug in das Gedicht erhält: Die Kunst trägt ein zerschlissenes grünes Samtkleid, während die Tugenden in prächtigen Gewändern auf Stühlen unter einem Baldachin sitzen.

Inhalt

Ein Sprecher-Ich wird Zeuge einer Gerichtsverhandlung von weiblichen Figuren, in der die personifizierte Kunst die ebenfalls personifizierte valsche Milte (falsche Freigiebigkeit) wegen Vernachlässigung anklagt. Milte und Kunst ergreifen abwechselnd das Wort und verhandeln einen zentralen Diskurs: Viele Gönner entlohnen gute und rechtmäßige Kunstausübung nicht adäquat. Den Vorsitz dieses Gerichts führt die edle Dame Gerechtigkeit (Gerehtekeit), als Schöffinnen fungieren elf weitere personifizierte Tugenden: Barmherzigkeit (Erbarmeherzekeit), Treue (Triuwe), Beständigkeit (Staete), Bescheidenheit (Bescheidenheit), Güte (Güete), Ansehen (Êre), Scham (Scham), Maßhalten (Mâze), Sittsamkeit (Zuht), Wahrheit (Wârheit) und Minne. Dieses Tugendensemble fällt zum Ende des Verfahrens ein weitreichendes Urteil: Gönner, die die Kunst mangelhaft entlohnen, sollen von den Tugenden fortan gemieden werden. In letzter Konsequenz wird der Sprecher Cuonze (= Konrad) aufgefordert, den Beschluss der Welt zu verkünden.

Und sonst?

Ist es nicht interessant, dass so viele Personifikationen auf einmal verwendet werden? Ganz zu Beginn der Erzählung gibt es sogar noch eine Frau Wildekeit, die den Autor an die Hand nimmt und zur Gerichtsverhandlung führt. Mit Wildekeit und Kunst sind hier Begriffe benannt, die auf poetologische Überlegungen, das heißt Überlegungen zu Form und Funktion der Literatur selbst, referieren.

A. Eisenschmid

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