Täuschend echt – Der dämonische Ursprung der Illusion

Miquela und der Mund der Wahrheit

Abbildung generiert mit Midjourney V4,
31.01.2023

In der Frühen Neuzeit gelten Täuschungen und Illusionen als Werk von Dämonen, Hexen und Magiern. Satanische Mächte täuschen und ‚verblenden‘ den Menschen, rufen unkontrollierbare Affekte wie erotische Begierde oder Furcht hervor und bestimmen daraufhin das Handeln der Betroffenen, die so wiederum unmittelbar ihr Seelenheil gefährden.

Die Beschwörung der Helena von Troja

Am weißen Sonntag kamen Studenten zu D. Faustus nach Hause zum Abendessen. Als nun der Wein floss, wurde am Tisch von schönen Frauen gesprochen; da sagte einer von ihnen, dass er keine Frau lieber sehen würde als die schöne Helena aus Griechenland, wegen der die schöne Stadt Troja zugrunde gegangen sei. Sie müsse schön gewesen sein, weil sie ja ihrem Mann geraubt worden und ihretwegen ein solcher Konflikt entstanden sei.

Historia von D. Johann Fausten

Kapitelausschnitt Am weissen Sonntag von der bezauberten Helena

1587, Digitalisat der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 56.3 Eth, S. 171–175.

Doktor Faustus antwortete: „Weil ihr so begierig darauf seid, die schöne Erscheinung der Helena zu sehen, will ich sie euch hier vorführen, damit ihr persönlich ihren Geist in Aussehen und Gestalt betrachten könnt, als wäre sie noch lebendig.“

Darauf verbot Doktor Faustus ihnen zu sprechen, vom Tisch aufzustehen oder Helena anzufassen und verließ die Stube. Als er wieder hereinkam, folgte die Königin Helena dicht hinter ihm, so wunderschön, dass die Studenten nicht mehr bei Sinnen waren, so verwirrt und innerlich entbrannt waren sie.

Die Heilige Dorothea

Lucas Cranach d.Ä.: Die Heilige Dorothea. Altdeutsch, um 1530, Öl auf Eiche, 77 × 59 cm, GG-544, Legat von Graf Lamberg-Sprinzenstein, Wien 1822, Digitalisat der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien.

Helena erschien in einem kostbaren schwarzen Purpurkleid. Ihr schönes, goldblondes Haar trug sie offen und es reichte ihr bis zu den Knien. Sie hatte kohlschwarze Augen, ein hübsches Gesicht mit einem runden Köpfchen, kirschrote Lippen mit einem kleinen Mund, einen Hals wie ein weißer Schwan, rosa Bäckchen, ein strahlend schönes Gesicht, groß und schlank.

Kurzgesagt, sie war perfekt und sah sich in der Stube mit einem kecken Blick um, dass die Studenten in Liebe zu ihr entbrannten. Weil sie aber glaubten, es handle sich um einen Geist, verging ihnen ihre Begierde schnell wieder und Helena verließ die Stube.

Die Studenten bitten Faust, sie erneut zu beschwören, damit ein Maler sie porträtieren könne. Faust lehnt dies ab mit dem Hinweis, er könne Helena nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt beschwören, versichert ihnen aber, dass er ihnen ihr Porträt zukommen lassen wolle. Dieses könnten sie dann wiederum abmalen.

Als die Studenten zu Bett gingen, konnten sie wegen des Anblicks, der sich ihnen geboten hatte, nicht schlafen. Hieran zeigt sich, dass der Teufel die Menschen häufig in Liebe entbrennen lässt und verblendet, sodass sie ein ausschweifendes Leben führen, das sie danach nur schwer wieder aufgeben können.

Die Historia von D. Johann Fausten

Die Historia von D. Johann Fausten erscheint 1587 beim Frankfurter Drucker Johannes Spieß. Der anonym verfasste Prosaroman beschäftigt sich mit dem Leben und Wirken D. Johann Faustens. Dieser schließt einen Teufelspakt und lebt daraufhin 24 Jahre mit seinem Dämon Mephostophiles, bis er schließlich vom Teufel zu Tode gebracht wird. Die Historia geht auf mündliche Überlieferungen über eine historische Faustfigur zurück, wird jedoch vermischt mit verschiedenen Textquellen (wie etwa dämonologischen Traktaten und Sprichwortsammlungen), die es erschweren, den historischen Kern herauszuarbeiten. Bereits im Jahr 1587 wird die Historia mehrfach nachgedruckt und noch im selben Jahr erscheint eine Ausgabe mit Zusatzkapiteln, die weitere kurze Erzählungen über Faustus und seine Zauberkunst enthalten. Das Werk gilt als einer der erfolgreichsten Prosaromane des 16. bis 18. Jahrhunderts.

Titelblatt Historia von D. Johann Fausten

Historia von D. Johann Fausten. Titelblatt, 1587, Digitalisat der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 56.3 Eth.

Teuflische Verblendung: Dämonologische Traktate als Quellen der Historia von D. Johann Fausten

In der Frühen Neuzeit entstehen im Gefolge der ersten systematischen ,Hexentheorie‘, dem Hexenhammer (lat. Malleus maleficarum, 1486/87), besonders im französischen und deutschsprachigen Raum zahlreiche dämonologische Traktate, die sich für oder gegen die Hexenverfolgung positionieren. Ein zentraler Streitpunkt in dieser Auseinandersetzung sind die von Dämonen verursachten Täuschungen. Dabei sind sich die Verfasser der Traktate darin einig, dass Dämonen insbesondere optische Täuschungen einsetzen, um Schaden zu verursachen. Gleichzeitig nimmt die erzählerische Auseinandersetzung mit optischen Illusionen in den Traktaten auffallend viel Raum ein. Hieran zeigt sich, dass sich die Furcht vor der Illusion und die Faszination von ihr durchaus vermischen können. Befürworter der Verfolgungen argumentieren, dass Hexen erheblichen Schaden verursachen, indem sie beispielsweise mittels Hagel für Ernteausfälle sorgen oder Menschen zum Schein in Tiere verwandeln.

Zwei Hexen sieden Hagel

In: Ulrich Molitoris: Won den vnholden oder hexen, Holzschnitt, 1489, Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München: Res/4 H.g.hum. 16 n, C6r. URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00033852?page=43, letzter Zugriff: 12.01.2023.

Titelblatt Malleus maleficarum

Malleus maleficarum. Titelblatt, 1588, Digitalisat von Gerald Raab der Staatsbibliothek Bamberg: J. cr.o.60 c.

Gegner der Hexenverfolgung reagieren hingegen mit anderen Erklärungsansätzen: So schreibt etwa der Mediziner Johann Weyer erstmals 1563 in seinem Traktat Über die Blendwerke der Dämonen (lat. De Praestigiis Daemonum), die Frauen selbst unterlägen einer Täuschung der Dämonen, die ihnen vorgaukelten, sie würden über illusionistische Kräfte verfügen. Diese dämonischen Täuschungen erklären laut Weyer auch die Geständnisse der vermeintlichen Hexen, die tatsächlich glauben, die fraglichen Taten ausgeübt zu haben. Laut Weyer geht die Gefahr dämonisch-magischer Täuschungen also vielmehr von gebildeten Magiern aus, die Teufelspakte schließen, um illusionistische Kräfte einsetzen zu können.

Titelblatt De Praestigiis Daemonum

Johann Weyer: De Praestigiis Daemonum. Von Teuffelsgespenst, Zauberern vnd Gifftbereytern / Schwartzkuͤnstlern / Hexen vnd Unholden [...]. Titelblatt, 1586, Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München: Res/2 Phys.m. 21.

Auf dieser theoretischen Grundlage baut auch die Historia von D. Johann Fausten auf, die nachweislich dämonologisches Wissen und erzählerische Bestandteile aus Johann Weyers Traktat aufnimmt und in ihre Geschichte integriert: Der gelehrte Magier Faustus schließt einen Pakt mit dem Teufel und beschwört mit dessen Hilfe faszinierende visuelle Täuschungen herauf – etwa von antiken Helden oder der schönen Helena, die sowohl das Publikum in der Historia als auch die zeitgenössische Leserschaft unterhalten sollen.

Uncanny Valley: lustvolles Wandeln im unheimlichen Tal

Die charakteristische Vermischung von Unsicherheit und Angst sowie Faszination und Anziehung gegenüber hyperrealistischen Illusionen – in diesem Falle einer illusorisch schönen Frauenfigur – beschäftigt jedoch nicht nur die Autoren im 16. Jahrhundert. Das Spiel mit dem schönen Schein ist im digitalen Zeitalter ebenso aktuell und brisant.

Uncanny Valley Hypothese

BewegtUnbewegtUncanny ValleyAffinität (shinwakan)BehagenUnbehagenMenschenähnlichkeit100%50%12. Gesunder Mensch10. Bunraku Puppe2. Humanoider Roboter9. Handprothese67. Zombie111. IndustrieroboterLeichnam8. Handprothese3. Stofftier45

Beispiele

1 Industrie­roboter
5%
2 Humanoider Roboter
50%
3 Stofftier
55%
4 Tierpräparat
60%
5 Yase Otoko Maske
70%
6 Humanoider Roboter
80%
7 Zombie
80%
8 Handprothese
80%
9 Myoelektrische Hand
85%
10 Bunraku Puppe
90%
11 Kranker Mensch
95%
12 Gesunder Mensch
100%

Die Erschaffung der Lil Miquela

Die 19-jährige Miquela Sousa, in den sozialen Medien Lil Miquela genannt, ist eine vom kalifornischen Start-up Brud digital erzeugte Influencerin brasilianisch-spanischer Herkunft. Seit 2016 hat sie einen Instagram-Account, auf dem sie bei ihren mittlerweile rund drei Millionen Followern als Model für Kleidung, beispielsweise von Calvin Klein oder Prada, wirbt.

Lil Miquela

Profil auf Instagram

Auf der Streaming-Plattform Spotify hat Miquela mittlerweile mehrere Songs veröffentlicht, in denen sie unter anderem ihren Liebeskummer verarbeitet. Außerdem setzt sie sich in den sozialen Netzwerken Twitter, Tumblr, TikTok, YouTube und Instagram als Advokatin für soziale Gerechtigkeit ein und unterstützt feministische Bewegungen und Black Lives Matter.

Helena = Miquela?

In der Historia nutzt Faustus seinen Dämon, um eine hyperrealistische Erscheinung der Helena von Troja hervorzubringen. Durch die rhetorisch gewandte Beschreibung von Kopf bis Fuß – „rundes Köpfchen, kirschrote Lippen mit einem kleinen Mund, ein Hals wie ein weißer Schwan, rosa Bäckchen“ – wird das Gesamtbild ihres Aussehens in Einzelteile aufgebrochen. Diese Reduktion auf einzelne Aspekte der Erscheinung macht es unmöglich, die illusorische Figur in ihrer Ganzheit wahrzunehmen, und begünstigt so ihre Erotisierung. Im weiteren Text steht diese erotische Begierde der Studenten und Faustens (dem die fleischgewordene Helena später einen Sohn zur Welt bringen wird) neben der Warnung vor den Konsequenzen eines Lebens, das sich solchen trügerischen Täuschungen hingibt. Hinter dem schönen Schein versteckt sich nämlich, so will der Text vermitteln, der Meister der Lügen und Täuschungen: der Teufel selbst. Kennzeichen für das Teufelswerk ist dabei gerade die illusionistische Perfektion, die buchstäblich zu gut ist, um wahr zu sein. So verlässt Helena Faustus und die Runde der Studenten denn auch relativ zügig wieder. Und auch Faustens mit ihr gezeugter Sohn löst sich in Luft auf. Zurück bleiben lediglich Bilder: in den Studenten, in Faustus und schließlich auch im Leser bzw. der Leserin. Gerade diese starken inneren Bilder – verursacht durch die Macht der Worte –, stoßen zeitgenössischen Kritikern des Faustbuchs auf. Dem entgegen steht der Erfolg der Historia und ihrer zahlreichen Um- und Bearbeitungen, die bei der Leserschaft auf reges Interesse stoßen. Gerade das Verbotene hat offenbar fasziniert.

Während Helena im Medium Text heraufbeschworen wird und die Bilder entsprechend in der Phantasie entstehen, tritt Miquela im Bildmedium unmittelbarer in Erscheinung. Hinter Miquela stehen der Gründer und die Gründerin des Unternehmens Brud, Trevor McFedries und Sara Decou, die die ‚Auftritte‘ ihrer digitalen Schönheit orchestrieren. Dabei fällt auf: Miquela verkörpert den typischen ‚Instagram-Look‘: volle Lippen, ausdrucksstarke Augenbrauen, schmale Taille. Sie ist die ideale Frau des beginnenden 21. Jahrhunderts: jung und hübsch, aber eben auch sozial und politisch engagiert. Ihre Erscheinung provoziert zahlreiche, teilweise sehr unterschiedliche Reaktionen: Einige Follower:innen begegnen ihr mit ‚distanzlosem‘ erotischem Interesse, andere wünschen sich eine Freundschaft, dritte beschäftigt die technische Subtilität ihrer Entstehung, aber auch ihre Einflussnahme auf aktuelle soziale und politische Prozesse. Doch auch Kritik wird laut: Die amerikanische Autorin Rosa Boshier gibt zu bedenken, dass sich das Unternehmen Brud an einer digital erzeugten woman of colour bereichere, ohne jedoch mit einer echten woman of colour zusammen zu arbeiten. Wenn der ethnische Hintergrund genauso sorgfältig kuratiert sei wie das Selfie in der kalifornischen Sonne, werde soziale Gerechtigkeit zu einer Ware auf dem kapitalistischen Markt.

Die Grenze zwischen analoger und digitaler Welt verwischt in Miquelas Fall gleich von zwei Seiten: Zum einen nähert sich das digital generierte Porträt in der hyperrealistischen Ausgestaltung unserer eigenen analogen Welt an, zum anderen lässt sich wiederum die digitale Aufbereitung unserer eigenen Porträts (vom beschönigenden Filter bis zur Deepfake-Technologie) als ,Avatarisierung‘ auslegen. Dabei hat die postmoderne, digitale ästhetischen Illusion – anders als die dämonische Illusion – nichts Teuflisches mehr. Geblieben ist jedoch ein unheimliches Unbehagen: Der sogenannte Uncanny Valley-Effekt oder auch die Akzeptanzlücke beschreibt das paradoxe Phänomen, dass sich die Akzeptanz von technisch simulierten Avataren nicht stetig mit der Menschenähnlichkeit der Figur steigert, sondern innerhalb einer bestimmten Spanne einen starken Einbruch verzeichnet. Die Akzeptanz steigt erst wieder mit einem sehr hohen Grad der Ähnlichkeit und erreicht ihren mutmaßlichen Höhepunkt, wenn sich die Täuschung überhaupt nicht mehr vom Menschen unterscheiden lässt.

Schein und Illusion als ästhetisches Konzept

Im 18. Jahrhundert verfestigt sich Illusion zu einem ästhetischen Konzept. Philosophen und Dichter wie Immanuel Kant, Gotthold Ephraim Lessing oder Friedrich Schiller etablieren den Schein als zentrale Komponente der Künste. Dieser lustvolle und ungefährliche Genuss von Täuschung setzt eine Distanz in der Lektüre voraus. Im 16. Jahrhundert, das davon ausgeht, dass der Teufel die Sinne zu täuschen vermag, ist diese Distanz jedoch (noch) prekär. Denn in der Beschreibung der beschworenen Helena vermischt sich das Dämonische mit dem Kunstvollen – Helena wird wortgewandt porträtiert und soll gar abgemalt werden. Sie ist teuflische Illusion und Objekt erotischer Begierde und zugleich Kunstwerk. Durch diese Gleichzeitigkeit wird nicht nur das ästhetische Potential des Dämonischen zur Diskussion gestellt, sondern ebenso sehr das dämonische Potential des Ästhetischen. Dass dieses Unbehagen nicht mit der Vormoderne endet, zeigt sich an der Influencerin Miquela, die uns – freilich nicht als teuflische, aber als CGI-Illusion – mit den fließenden Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Kunst und Wahrheit konfrontiert.

Paula Furrer unter Mitarbeit von Lisa Maier

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