Ästhetischer Wortschatz – Wie spricht man im Mittelalter über Kunst?

Süß?

Welche Wörter nutzen wir, um über Kunst zu sprechen? Inwiefern hat sich das ästhetische Vokabular seit dem Mittelalter gewandelt? Der Blick auf das Wörtchen ‚süß‘ und die Sangspruchdichtung kann diese Fragen erhellen. Digitale Methoden helfen dabei, den Wortschatz des Ästhetischen zu erschließen und zu kategorisieren.

Was ist süß? Früher und heute

Die Antwort auf diese Frage aus heutiger Sicht scheint klar zu sein: Zuerst kommen einem allerhand süße Nahrungs- und Genussmittel in den Sinn – allen voran der in der Moderne quasi allgegenwärtige Zucker! Daneben entlocken uns niedliche Tierbabys oder Kleinkinder gerne einmal ein „Oh wie süß!“. Oder die Boulevardpresse vermeldet unter der Schlagzeile „Süße Neuigkeiten!“ Nachwuchs im Königshaus.

Für das Sprechen über ästhetische Artefakte, also Kunstwerke, liegt das Wort ‚süß‘ uns zunächst einmal aber doch eher fern – oder hat, denkt man z. B. an ‚süßliche‘ Musik oder Literatur, einen eher abwertenden Unterton, dem der Verdacht des Kitschs anhaftet. Für das Mittelalter hingegen stellt sich der Befund zur ‚Süße‘ ganz anders dar!

Süße im Mittelalter: Vielfalt mit allen Sinnen

Gegenüber unserem heutigen Sprachgebrauch überraschen die vielfältigen Verwendungsweisen von ‚süß‘ im Mittelalter. Die damalige Form des Wortes, süeze, besitzt ein äußerst breit gefächertes Bedeutungsspektrum. Es bezeichnet ‚Süßes‘, ‚Wohltuendes‘, ‚Angenehmes‘ in unterschiedlichsten Bereichen  – alltagsweltliche ebenso wie im engeren Sinne ‚ästhetische‘: z. B. Natur, Nahrung, Krankheit, Medizin, Verwandtschaft, soziale Ordnungen, religiöse Erfahrungen, Praktiken und Vorstellungen, Musik, Gesang, Dichtung, Spiel oder Tanz. Diese Vielfalt hängt auch damit zusammen, dass ‚süß‘ sich nicht allein auf den Geschmack oder den Geruch, sondern auf alle Arten von Sinneswahrnehmungen, also auch auf das Hören, Sehen und Fühlen bezieht.

Süße im Text: suchen, sammeln, reflektieren

Im Rahmen unserer Forschung zu Semantiken des Ästhetischen suchen und sammeln wir die Belegstellen für süeze in einer breiten Vielfalt von mittelhochdeutschen Texten – vom mittelalterlichen Roman über den Minnesang bis hin zu Heiligenlegenden oder Naturkunden, um nur einige Beispiele zu nennen.

Beantworten möchten wir so die Forschungsfrage, inwiefern ein auf den ersten Blick simples, alltägliches Wort in seinen vielschichtigen Bezügen dazu in der Lage ist, eine Reflexion über das Ästhetische in historischer Perspektive anzustoßen. Für unsere Arbeit an den mittelalterlichen Texten nutzen wir computergestützte Methoden: Dabei werden die Belegstellen für ausgewählte Wörter wie z. B. süeze am Computer mithilfe von sogenannten Annotationen klassifiziert.

Computergestützte Annotation: klassifizieren, vergleichen, visualisieren

Mit Annotation ist das exakte Markieren bestimmter Phänomene in einem Text gemeint. In unserem Fall geht es hierbei um das Erfassen des ästhetischen Wortschatzes der mittelhochdeutschen Literatur. Der Annotationsprozess durchläuft vier Schritte, die sich immer wiederholen.

1. Definition

Zu Beginn des Zyklus werden die vorliegenden Texte genau untersucht, um festzustellen, wo das gesuchte Phänomen im Text zu finden ist. Dabei können bereits erste Fehlerquellen identifiziert werden, etwa mehrdeutige Stellen, die bei der Annotation zu Problemen führen können. Anschließend werden Annotationsrichtlinien festgelegt. Sie haben zum Ziel, dass verschiedene Annotierende unabhängig voneinander zu denselben Ergebnissen kommen. Die genaue Definition der Kategorien zwingt dazu, sich tiefgehend mit dem gesuchten Phänomen auseinanderzusetzen.

2. Annotation

Das Annotieren selbst wird als Parallelannotation ausgeführt. Das bedeutet, dass immer mindestens zwei Personen den gleichen Text annotieren, um durch den Vergleich der Ergebnisse die Qualität der Annotationsrichtlinien zu prüfen und schwierige Fälle im Team besprechen zu können. Die Evaluation mithilfe des Inter-Annotator-Agreements (IAA) zeigt, wie oft zwei oder mehr Annotierende dieselben Kategorien für eine Textstelle vergeben haben. Das IAA stellt so die Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit sicher.

3. Evaluation

Das Ergebnis der Evaluation gibt Aufschluss darüber, welche Textstellen zu Unstimmigkeiten geführt haben. Auf dieser Basis werden die Annotationsrichtlinien überarbeitet und die Annotierenden erhalten neue Anweisungen. Dann beginnt der Zyklus wieder von vorne.

4. Zuordnung

Mithilfe der computergestützten Annotation lassen sich die süeze-Belege verschiedenen Geltungsbereichen zuordnen und können so nach Themen geclustert werden. Das verwendete digitale Tool erleichtert die Arbeit vor allem bei großen Textkorpora und hilft dabei, die Zuordnungen vergleichbar zu machen, wenn mehrere Personen dieselben Texte annotieren. Außerdem bietet es die Möglichkeit, die Annotationen nach Geltungsbereichen sortiert zu exportieren und erleichtert damit die Forschungsarbeit an den Ergebnissen und deren Visualisierung

Gedichte singen

Auf diese Weise untersuchen wir jedoch nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ganze Textgattungen. So nehmen wir z.B. auch eine bestimmte Sorte mittelalterlicher Lyrik genauer in den Blick: den ‚Sangspruch‘. Darunter versteht man einstrophige Texte, die meist belehrenden oder werbenden Charakter haben. Inhaltlich geht es um unterschiedliche Themen wie Religion, Ethik, aktuelles Zeitgeschehen, Fürstenlob, Wissen oder Kunst.

Sangsprüche sind dabei mehr als nur Gedichte – sie wurden nicht einfach gesprochen vorgetragen, sondern gesungen.

Wie spricht man im Mittelalter über Kunst?

Wir gehen der Frage nach, mit welchen Wörtern Sangsprüche sich selbst als Kunst, die in die Gesellschaft eingebunden ist, beschreiben.

Die Autoren sprechen zum Beispiel über die Qualität ihrer Gedichte, deren Entstehungsbedingungen und die Rolle des Publikums.

Die hier gezeigte Strophe ist ein Gesangeslob des Dichters ‚Der Unverzagte‘: Der Sänger erklärt, warum er Gesang dem Saitenspiel vorzieht. Er stellt das Singen somit über instrumentale Musik.

Annotationen

Text

Ez ist eẏn lobeliche kvnst,
der seitenspil tzv rechte kan.
Die gîger vreuwen maniges mvt.
Hie vur trag ich tzv dem sange gvnst.
Sanc lert vrouwen vnde man.
Sanc ist tzv gotes tische gut.
Her blest da ẏn der seiten klanc.
Swer vch da lobet vur meister sanc,
der sol mẏnes lobes ane wesen.
Sanc mac man scriben vnde lesen.
Mit sang ist al die werlt genesen.

Es ist lobenswerte Kunst,
wenn einer das Saitenspiel richtig beherrscht.
Die Geiger erfreuen die Gemüter vieler.
Ich bevorzuge hiervor den Gesang.
Gesang lehrt Damen und Männer.
Gesang ist am Altar Gottes angemessen.
Er bläst da in den Klang der Saiten.
Wer euch vor dem Gesang der Meister lobt,
der kann von mir keinen Beifall erwarten.
Gesang kann man aufschreiben und lesen.
Gesang bringt der ganzen Welt Genesung.

Legende

    • Produktion
      • Wörter, Wortverbindungen und uneigentliche Ausdrücke, die sich auf das dichterische Schaffen beziehen
      • Ausdrücke, die das physische Produzieren von Musik oder Bildender Kunst meinen
    • Werk und dessen Eigenschaften
      • Ausdrücke, die das Produkt des dichterischen Schaffens bezeichnen
      • Einzelwörter, Mehrwortverbindungen und uneigentliche Ausdrücke, die sich auf Merkmale von Kunstwerken beziehen
    • Werk und dessen Aufführung
      • Verben und uneigentliche Ausdrücke, die beschreiben, wie der Sänger dem Publikum seinen Gesang darbietet
      • Ausdrücke für das instrumentalmusikalische Aufführen
    • Rezeption
      • Wörter, Wortverbindungen und uneigentliche Ausdrücke, die sich darauf beziehen:
        a) wie die Darbietung des Sängers auf das Publikum wirkt
        b) wie die Zuhörerschaft den Gesang aufnimmt
        c) wie das Publikum auf die Aufführung reagiert
    • Weiteres milte-Konzept
      • Unterkategorie von Rezeption
      • Wörter, Wortverbindungen und uneigentliche Ausdrücke, die Gönnerschaft, Freigebigkeit und konkrete Gaben beschreiben
    • selbstreferenziell/eigentlich
      • alle Wörter und Wortverbindungen, die Sangsprüche verwenden, um sich selbst als Kunst zu bezeichnen
      • alle Wörter und Wortverbindungen, die thematisieren, wie Kunst gesellschaftlich eingebunden ist
      • die Ausdrücke müssen wörtlich gebraucht werden
      • diese Wörter haben ästhetische Bedeutung
      • berücksichtigt nicht nur Gesangskunst, sondern zum Beispiel auch Bezüge auf Bildende Kunst und Musik
    • selbstreferenziell/uneigentlich
      • nicht wörtlich verwendete Rede; hauptsächlich Metaphern und Metonymien
      • bezieht sich im übertragenen Sinn auf Kunst oder darauf, wie Kunst gesellschaftlich eingebunden ist
      • hat übertragen ästhetische Bedeutung
      • zum Beispiel Handwerksmetaphern für das Dichten
    • fremdreferenziell/eigentlich
      • Wörter, die Schönes und Hässliches in anderen Bereichen als der Kunst thematisieren
      • die Ausdrücke müssen wörtlich gebraucht werden
    • fremdreferenziell/uneigentlich
      • nicht wörtlich verwendete Rede; hauptsächlich Metaphern und Metonymien
      • bezieht sich im übertragenen Sinn auf Schönes und Hässliches in anderen Bereichen als der Kunst
      • zum Beispiel das helle Leuchten der Gottesmutter Maria
    • Einzelwort
      • in erster Linie werden für den ästhetischen Wortschatz des Sangspruchs einzelne Wörter mit ästhetischer Bedeutung ermittelt
    • Mehrwortverbindung
      • Fälle, in denen sich die ästhetische Bedeutung eines Worts erst in Kombination mit anderen Wörtern ergibt

Übersetzung

Manuskript

‚Der Unverzagte‘

Melodien zu Sangsprüchen sind leider nur selten überliefert. Eine Ausnahme bildet die Jenaer Liederhandschrift J: Der Text dieser Strophe ist unter römischen Quadratnoten (sogenannten Neumen) zu sehen.

Faksimile: Jenaer Liederhandschrift. Ms. El. f. 101, Mitteldeutschland (evtl. Thüringen), Datierung um ca. 1330, Blatt 40r, Digitalisierung der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, gefördert durch die DFG, Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

Um den ästhetischen Wortschatz des Sangspruchs (als lyrischer Gattung) aufzufinden, nutzen wir als Methode ebenfalls die Annotation mithilfe des Computers. So können wir eine Vielzahl von Begriffen festhalten, sortieren und auswerten. Wir ermitteln dann beispielsweise ihre Häufigkeit in der gesamten Sangspruchdichtung oder prüfen, ob unterschiedliche Dichter Ausdrücke oft oder selten verwenden.

Bei der Untersuchung der einzelnen Strophen der Sangspruchdichter leiten uns Kriterien, welche Wörter markiert werden.

In unserer Gesangeslob-Strophe wurden zum Beispiel alle Wörter, die das Thema Kunst und künstlerisches Vermögen im weiteren Sinne erfassen, annotiert. Dazu gehören die Dichtkunst, aber auch Musik und Gesang. Entsprechend wurden kunst, seitenspil, sanc / sang(e) und klanc mit Markierungen versehen. Auch die Wirkung der Kunst auf die Zuhörenden spielt in dieser Strophe eine Rolle. Zu dieser Kategorie zählen die Verben vreuwen, lêrt und genesen, die daher farblich noch einmal anders markiert sind.

Anderer Wortschatz – Andere Ästhetik?

Wir sind also sowohl einzelnen Wörtern in ihren ästhetischen Bedeutungen auf der Spur als auch weitgespannten Wortnetzen. Lassen sich aus den Veränderungen dieses Vokabulars im Lauf der Zeit Rückschlüsse darauf ziehen, was das Mittelalter als ästhetisch versteht – und was nicht? 

Diese übergreifende Frage möchten wir durch unsere Arbeit am Wort süeze und am ästhetischen Wortschatz des mittelhochdeutschen Sangspruchs beantworten.

Dr. Marion Darilek, Miriam Krauß und Nathalie Wiedmer

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