… heiter die Kunst? – Kontroverse Autonomie und Andere Ästhetik

Prof. Dr. Jörg Robert

Prof. Dr. Jörg Robert hat den Lehrstuhl für Literatur­geschichte der Frühen Neuzeit an der Eberhard Karls Universität Tübingen inne. Er ist stellvertretender Sprecher des SFB 1391 Andere Ästhetik und leitet hier die Projekte „Purismus“ und „Augentrug, Traum und Täuschung“ sowie das Projekt zur Wissenschafts­kommunikation und Öffentlichkeits­arbeit.

Das Reich der Kunst

„Ernst ist das Leben, heiter die Kunst“ – mit dieser einprägsamen Sentenz schließt Friedrich Schiller 1797 den Prolog zu Wallensteins Lager, dem ersten Teil seiner Wallenstein-Trilogie (1797–1799). Hinter dem Bild von der heiteren Kunst verbirgt sich ein ernstes Anliegen: Es geht um die Funktion der Kunst in der Moderne. Als die Zeilen geschrieben werden, steht Europa vor bedeutenden Umbrüchen. Die Revolution von 1789 hat nicht nur die geistig-politische Welt des Ancien régime zu Fall gebracht, die Truppen der Revolution haben auch die europäische Landkarte verändert. Die „alte feste Form“, so der Prolog, die Ordnung des Westfälischen Friedens von 1648, ist brüchig geworden. Mitten in Europa herrscht Krieg. Das Heilige Römische Reich zerfällt und wird unter dem Druck Napoleons 1806 aufgelöst. Angesichts dieser „düstre[n] Zeit“ ist es Aufgabe der Kunst, dass sie einerseits „das düstre Bild der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst hinüberspielt“ und andererseits doch „die Täuschung, die sie schafft, aufrichtig selbst zerstört“. Kunst darf also nicht zur falschen Widerspiegelung des äußeren Lebens werden. Der „ästhetische Staat“, wie Schiller in den Ästhetischen Briefen schreibt, ist kein Asyl für schöne Nebenstunden, sondern eine Zone eigenen Rechts, in der sich menschliche Freiheit im Hier und Jetzt entfalten kann. „Kunst“, so Schiller in Über das Erhabene, sei wie eine „Inoculation“, also Impfung, die gegen die Wechselfälle des Lebens immunisiert. Sie ist heiteres Training, das jedoch für den Ernstfall rüstet.

Adorno – Falsche Freiheit und Glücksversprechen der Kunst

Schillers Plädoyer für eine „heitere“ Kunst, die sich vom politischen „Parteyengeist“ und vom platten ästhetischen „Naturalism“ der Nachahmung absetzt, zählt zu den notorischen Belegstellen für ein Konzept, das bis heute für Kontroversen sorgt: das der ästhetischen Autonomie bzw. der ‚Autonomieästhetik‘. Man wird dabei spontan an die im Grundgesetz der Bundesrepublik (Artikel 5 Absatz 3) verbriefte „Freiheit der Kunst“ denken („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“). Kontrovers ist jedoch, wie und wie weit die Kunst ihre Freiheit nutzt bzw. nutzen darf. Hier kommen wieder Schiller und unser Leitzitat ins Spiel. Theodor W. Adorno greift es in seinen Noten zur Literatur (1958) auf, um es als Frage neu zu stellen bzw. in Frage zu stellen: Ist die Kunst heiter? – so lautet der Titel eines zentralen Essays zur Bedeutung der Kunst in der Gegenwart. Für Adorno ist dies eine rhetorische Frage, deren Antwort nur ‚nein‘ lauten kann. Adorno schreibt unter dem Eindruck des Holocaust. Sein Diktum „nach Auschwitz lasse kein Gedicht mehr sich schreiben“ sorgte für eine der hitzigsten Kontroversen der Literaturgeschichte nach 1945. Es bildet auch im Essay Ist die Kunst heiter? den Fluchtpunkt der Argumentation. Adorno geht hier mit dem Weimarer Klassiker hart ins Gericht, nennt ihn den „Hofpoet(en) des deutschen Idealismus“. Doch das ist weniger gegen Schiller selbst gesprochen als gegen seine bildungsbürgerliche Vereinnahmung seit dem 19. Jahrhundert, die den Dichter der Ode an die Freude zum Phrasendrescher und sein Autonomiekonzept zur bloßen „Freizeitgestaltung“ erniedrigt habe: Statt „Inoculation des unvermeidlichen Schicksals“ werde Kunst, so Adorno weiter, in dieser Vereinnahmung nur mehr zur „Vitaminspritze für müde Geschäftsleute“. Verantwortlich hierfür ist die „Kulturindustrie“, welche die Kunst zum Konsumgut degradiere und so den gesellschaftlichen „Verblendungszusammenhang“ zementiere. Doch mit der Heiterkeit verhält es sich – wie so oft bei Adorno – dialektisch. Sie ist nicht nur Ärgernis sondern auch besondere Leistung der Kunst. Jenseits der „Platitude“ komme der Sentenz daher „ihr Maß an Wahrheit“ zu. Die Kunst „verkörpert etwas wie Freiheit inmitten der Unfreiheit“. Mit Stendhal und Nietzsche beschwört Adorno das „Glücksversprechen“ (promesse de bonheur) einer Kunst, die nicht nur die Distanz zur sondern vor allem die Irritation der Wirklichkeit sucht, kurz: ästhetische „Negativität“. „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“, schreibt er in seinen Minima Moralia. Mit Schiller und gegen eine korrumpierte Idee ästhetischer Autonomie fordert Adorno eine andere Ästhetik, die sich der tragischen Dialektik der eigenen Gegenwart bewusst wird. Er findet sie, zeitbedingt, in der Form der Tragikomödie, in den Stücken Becketts und des absurden Theaters.  

Die Provokation der Autonomie

Adornos Kritik der Autonomieästhetik hallt nach – bis heute. Dass Kunst irritieren und provozieren, aufrütteln, kritisch hinterfragen und zum Nachdenken über die bestehenden Verhältnisse anregen soll, war lange Konsens. In jüngster Zeit jedoch ändert sich dies. Kunst ist zum Skandalon geworden. Ihre Irritation irritiert, ihre Verstörung verstört. Wenn der Zeit-Feuilletonist Hanno Rauterberg in einem Essay demonstrativ die Frage stellt: „Wie frei ist die Kunst?“, so lässt sich darauf nicht einfach mit dem Hinweis auf das Grundgesetz antworten. Zahlreiche Fallbeispiele ästhetisch-ethischer Kontroversen zeigen, dass die Frage nach der Rolle, welche die Kunst in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft spielen soll, auch zunehmend umstritten ist. Die einen sprechen von Sensibilität und Verantwortung, die anderen von „Cancel culture“. Manche Kontroverse entspinnt sich um vermeintlich „kaputte Wörter“ (so der Titel eines instruktiven Buches des Journalisten  Matthias Heine): etwa das Wort „Indianer“, das eine Politikerin der Grünen in Bedrängnis brachte, zumal schon länger Karl Mays Romane im Verdacht stehen, koloniale Identitätspolitik zu betreiben. Nicht weniger kontrovers ist das Thema Erotik und Ästhetik. Bilder des Malers Balthus, die zwölf- bis dreizehnjährige Mädchen zeigen (z.B. Thérèse träumend), lösen Museumsskandale aus. Eine online-Petition anlässlich einer Balthus-Ausstellung im Metropolitan Museum New York forderte die Entfernung der – so der Vorwurf – voyeuristischen Darstellungen. Das Museum Folkwang in Essen sagte eine schon geplante Ausstellung ab; in Basel wurde demonstrativ eine Balthus-Ausstellung durchgeführt. In anderen Fällen wird Kunst zum Instrument und Medium der Kontroverse, wie zuletzt die ikonoklastischen Aktionen gegen Werke des musealen Höhenkamms (Stichwort: „Kartoffelbrei fürs Klima“) gezeigt haben, die sich in die lange Geschichte des Bilderstürmens einfügen lassen. Kunst regt also – wieder einmal – auf.

Politische und soziologische Ästhetik

Es überrascht daher kaum, dass Fragen der Kunst und der Ästhetik nicht nur in der gesellschaftlichen, sondern auch in der wissenschaftlichen Debatte zurück sind. Gerade in den politischen Wissenschaften war sogar von einem „aesthetic turn“ die Rede (Shapiro). Gemeint ist damit die politische „Aufteilung der Sichtbarkeit“ (Rancière) ebenso wie die neue Sensibilität für die ‚politische Ästhetik‘ in der Tradition Benjamins (W. Braungart). Die Kontroversen um die Grenzen der Kunstfreiheit führten zu einer intensiven Debatte um Ethik und Ästhetik. Von nachhaltiger Wirkung waren Pierre Bourdieus Untersuchungen zur sozialen Verankerung von Geschmack und ästhetischem Urteil innerhalb der (französischen) Gesellschaft der Sechziger und Siebziger Jahre. Kunst dient, so Bourdieu, als Medium sozialer Selbstorganisation; sie ist Teil eines ‚Habitus‘, der für „distinction“ – die ‚feinen Unterschiede‘ – sorgt. Mit seinem Blick auf die sozialen Ein- und Ausschlussmechanismen von Kunst und Geschmack regte Bourdieu nicht nur engagierte Soziologen wie Didier Eribon (Retour à Reims), sondern auch Autoren und Autorinnen wie die jüngst mit dem Nobelpreis geehrte Annie Ernaux (Les années) an. In Deutschland war es vor allem Andreas Reckwitz, der Bourdieus Ansatz und seine „Theorie der Praxis“ („Praxeologie“) aufnahm. Dabei konnte er zeigen, wie die ‚spätmoderne‘ Gesellschaft von ästhetischen Prinzipien bestimmt wird, die sich ausgesprochen oder unausgesprochen der Autonomieästhetik verdanken: etwa durch einen ‚Imperativ‘ zur Kreativität und Singularität. Umgekehrt haben Kunst- und Literaturwissenschaft praxeologische Prinzipien für sich entdeckt und die Orientierung an den Akteuren zum methodischen Prinzip gemacht, mit dem Gewinn, dass nun stärker die konkreten, physischen und materiellen Praktiken und Vollzüge in den verschiedenen Handlungsräumen fassen ließen. Nach dem Motto: „Follow the actors“!

... für eine Andere Ästhetik

Das neue Interesse an der sozialen Einbettung und ‚Verflechtung‘ (entanglement) ästhetischer Praktiken kann Forscherinnen und Forscher nicht überraschen, die sich mit Phänomenen vor der Moderne und vor dem Zeitalter ästhetischer Autonomie beschäftigen. Natürlich ist dieses ‚vor‘ nur ein Näherungswert. Immerhin bedeuten die Französische Revolution, die Begründung der philosophischen Ästhetik (Baumgarten, Kant, Hegel), die Weimarer bzw. Wiener Klassik und die von Deutschland ausgehenden europäischen Bewegung der Romantik einen Umbruch, der jedoch – siehe den Philhellenismus der Klassik, Goethes Faust oder die Mittelalterbegeisterung der Romantik – oft genug durch Wiederaufnahme vormoderner Bestände geprägt ist. Die Moderne beginnt mit dem Recycling der Vormoderne. Wer nun aus der Perspektive der Vormoderne auf die Moderne, gar die heutige „Spätmoderne“ (Reckwitz) oder „Digitalmoderne“ (Rauterberg) blickt, der erlebt manches Déjà vu. Das social entanglement der Künste ist in der Vormoderne nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dass Geschmack, Umgangsformen und ‚Habitus‘ gesellschaftliche Positionalität und Partizipation bedeuten, ist schon der frühneuzeitlichen Theorie und Praxis der Konversation, des „guten Tons“, geläufig, deren Wurzeln über das Mittelalter bis in die antike Rhetorik zurückreichen. Fragen der politischen Ästhetik wiederum sind bereits für die griechischen Polis-Gesellschaften bestimmend, die sich wesentlich durch eine Ästhetik der Präsenz, der Sinnlichkeit und Sichtbarkeit bestimmen. Immer wieder ist es die Religion, die ästhetische Akte und Artefakte von hoher Intensität hervorbringt: sei es in den literarischen Zeugnissen der Mystik, im Kirchenlied der Frühen Neuzeit oder in den Oratorien, Messen und Kantaten. Damit sind Gegenstände angesprochen, die es in Literatur-, Bild- und Kunstwissenschaften, vor allem in der philosophischen Ästhetik seit Kant, schwer hatten und die als Gebrauchskunst abgewertet wurden.

Recycling und ästhetische Nachhaltigkeit

So zeigt sich: Vormoderne Ästhetik erscheint an anderen Orten, sie findet nicht in Museen, sondern in der Lebenswelt statt. Auch werden ästhetische Fragen nicht nur in theoretischen Traktaten (z.B. Poetiken, Kunsttraktaten) behandelt. Sie begegnen an unvermuteten Stellen, etwa in Sach- und Gebrauchstexten zur religiösen Didaxe, in Fachtexten wie denjenigen zur Dämonologie, in Grammatik, Rhetorik oder Balneologie. Auch die Produktion ästhetischer Objekte unterscheidet sich von autonomieästhetischen Vorstellungen, die vor allem durch eine starke Überhöhung von Künstler und Werk geprägt sind. Das „Genie“ schaffe – so das Credo seit dem späten 18. Jahrhundert – frei von vorgängigen Modellen, Regeln und Rücksichten ein Werk, das frei von Zwecken, Rücksichten und Eingriffen nur sich selbst genügt. Vormoderne Ästhetik beruht dagegen auf handwerklichen Prinzipien (ars), auf angebbaren Regeln (praecepta), auf Nachahmung von Modellen (imitatio), die sich grundsätzlich verbessern und übertreffen lassen (aemulatio superatio). Auch nehmen ästhetische Artefakte der Vormoderne nicht immer die Form eines singulären, unverwechselbaren opus an: Sie konstituieren sich – wie z.B. die Rede, die Liturgie, die Prozession, die Tafel- oder Feuerwerksmusik, die mündlich-rhapsodische Heldengeschichte – performativ, d.h. im Vollzug oder bilden Reihen (Serialität) wie die Artusromane des Mittelalters, die Epigramm-Anthologien der Antike oder die Romane der Frühen Neuzeit. Bearbeitung, Wieder- und Weiterverwendung – ‚Recycling‘ – sind grundlegende ästhetische Praktiken. Vormoderne Ästhetik ist ‚nachhaltig‘. Sie knüpft an vorhandene Stoffe, Verfahren und Traditionen an, nicht um sie zu konservieren, sondern mit dem Ziel der kreativen Aneignung und Aktualisierung. Dieser ‚anderen‘ Ästhetik der Vormoderne gelten die Forschungen des SFB 1391 Andere Ästhetik. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass ästhetische Akte und Artefakte immer in einem doppelten Bezugsfeld stehen. Die Produktion (poiesis) von Bildern oder Texten hängt einerseits von den Eigenlogiken der Kunst (ars) ab, von den jeweils vorhandenen Techniken, Regeln, Modellen usw. – wir nennen dies die autologische Ebene. Andererseits stehen ästhetische Akte und Artefakte immer in einer Spannung zu anderen Diskursfeldern (wie Religion, Politik, Ethik, Wissenschaften usw.) und zu konkreten sozialen Praktiken (‚Sitz im Leben‘) – wir sprechen hier von der ‚heterologischen‘ Dimension.

Noch einmal – Kontroversen und Autonomie

Dieser praxeologische Ansatz, der den ästhetischen Akten und Akteuren folgt, der ihre physische und materielle Qualität in konkreten Lebenswelten aufspürt, verspricht einen neuen, umfassenderen und unbefangeneren Blick auf Verflechtungen zwischen Kunst und Gesellschaft, auf Konflikte und Kontroversen – historische wie aktuelle. Denn immer wieder überrascht die Ähnlichkeit zwischen vormodernen und spätmodernen ästhetischen Praktiken, eine Nähe, die weder von der kritischen Theorie noch von der politischen und soziologischen Ästhetik unserer Tage gesehen und fruchtbar gemacht wurde. Dabei liegt in der Geschichte der Kunst vor der Kunst, der Ästhetik vor der Ästhetik ein großes Potential für hochaktuelle Debatten über die Kunst, ihre Freiheit und ihre Grenzen. Mehr denn je sind wir in „düstren Zeiten“ auf eine Kunst angewiesen, die sich nicht auf eine als Autonomie getarnte Indifferenz zurückzieht, sondern ihre gesellschaftlichen Funktionen entschlossen wahrnimmt – ernst und heiter zugleich!