Personifikationen

Frau Welt dreht sich um

Vergänglichkeit und Schicksal

Konrad von Würzburg: Der Welt Lohn
Vers 210-231

'ich fürhte niemen âne got,
der ist gewaltic über mich.
diu Werlt bin geheizen ich,
der dû nu lange hâst gegert.
lônes solt du sîn gewert
von mir als ich dir zeige nû.
hie kum ich dir, daz schouwe dû᾿.
Sus kêrtes im den rucke dar:
der was in allen enden gar
bestecket und behangen
mit würmen und mit slangen,
mit kroten und mit nâtern;
ir lîp was voller blâtern
und ungefüeger eizen,
fliegen und âmeizen
ein wunder drinne sâzen,
ir fleisch die maden âzen
unz ûf daz gebeine.
si was sô gar unreine
daz von ir brœden lîbe dranc
ein alsô egeslicher stanc
den niemen kunde erlîden.

Übersetzung

„Ich fürchte niemanden außer Gott,
der Macht über mich hat.
Die Welt werde ich genannt,
die du nun lange schon begehrt hast.
Du sollst von mir belohnt werden
wie ich dir sogleich zeigen werde.
Hier komme ich zu dir, das schau dir an.“
Damit kehrte sie ihm den Rücken zu:
der war über und über
behängt und bedeckt
mit Gewürm und Schlangen,
mit Kröten und Nattern;
ihr Körper war voller Blattern
und hässlicher Geschwüre,
Fliegen und Ameisen
saßen in Unmengen darin;
die Maden zerfraßen ihr Fleisch
bis auf die Knochen.
Sie war dermaßen voll Unrat,
dass von ihrem gebrechlichen Körper
ein ganz abscheulicher Gestank ausging,
den niemand ertragen konnte.

Vorne hui - hinten pfui!

Besuch in der Schreibstube: Eine rätselhafte Frau schleicht herein und beginnt ein Gespräch mit dem Romanautor Wirnt von Grafenberg.

Die als wunderschön und edel beschriebene Dame dreht dem Ritter während des Gesprächs plötzlich den Rücken zu: Zerfressen von Maden und mit Schlangen, Würmern und Kröten besetzt, breitet sich von der hässlichen Rückseite ein abscheulicher Gestank aus. Es handelt sich um Frau Welt, die ihrem Diener Wirnt seinen Lohn offenbaren möchte. Frau Welt kann sprechen und vom Autor gesehen werden, dazu kann sie sich fürchten (fürhte[n]), hat einen Rücken (rucke), Körper (lîp) und besteht aus Fleisch und Blut (fleisch). Die ausführliche Beschreibung des ekelerregenden Rückens ist besonders prägnant. Über die sehr bildhafte Beschreibung gelingt es dem Text, die Kontraste zwischen lieblicher Front und abscheulichem Rücken anschaulich werden zu lassen.

Inhalt

In dieser Erzählung bekommt Wirnt von Grafenberg – in der realen Welt ein hoch angesehener Romanautor – von Frau Welt offenbart, was es wert ist, ihr zu Diensten zu sein. Anders als vermutet, gibt es eine gute und eine schlechte Seite, was ihm die Besucherin am eigenen Körper aufzeigt. Das Irdische, Schöne ist vergänglich. Der Anblick von Frau Welt und ihren zwei Seiten bringt den Autor zum Nachdenken. Schließlich entscheidet er sich, nicht länger Frau Welt, sondern dem Kreuz und damit Gott zu dienen.

Und sonst?

Die Personifikation der doppelseitigen Frau Welt ist eine bekannte Darstellung in Kunst und Literatur des Mittelalters. Allerdings wird sie hier das erste Mal in der deutschsprachigen Literatur derart drastisch beschrieben. So kann man die Welt nicht nur sehen und hören, sondern sie durch ihren stanc auch riechen, wobei sich das Medium Text große Mühe gibt, diesen synästhetischen Effekt zu vermitteln.

L. Huber

Mix & Match

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