Personifikationen

Keuschheit und Wollust

Innere Instanzen

Anonym: Der geistliche Streit
Vers 448-466

horent zů disem diebe,
wie er mir lage het geleit,
sprach die maget so gemeit.
Din rat schaffet an mir nút.
scheide von mir boͤser diep.
dir vnde diner vnkúschekeit
si von mir iemer widerseit.
Do daz di vnkúsche vernam,
balde sú gerennet kam.
vro kúsche sprangte an der zit
gegen * froͤlich in den strit.
sú stach durch sú ein vestes sper,
dc ist geheissen reine girde.
von dem rosse viel sú dot.
gelobest sistu herre got,
schruwent die dugende alle,
vnkúschekeit ist geuallen.
Dem túfel waz der sige leit.
er reit hin an die miltekeit.

Übersetzung

„Höret diesem Dieb zu,
wie er mir diesen Hinterhalt gelegt hat“,
sprach das Mädchen so fröhlich.
„Dein Rat kümmert mich nicht,
geh weg von mir, böser Dieb.
Dir und deiner Unkeuschheit
sei von mir immer widersagt.“
Als die Unkeuschheit das hörte,
kam sie sofort angerannt.
In diesem Moment preschte Frau Keuschheit
heiter gegen sie in den Kampf.
Sie stach eine feste Lanze durch sie,
die den Namen ‚Keusche Begierde’ trägt.
Sie fiel tot vom Pferd.
„Gelobt seist du, Herr Gott“,
schrien alle Tugenden,
„die Unkeuschheit ist gefallen!“
Dem Teufel war der Sieg zuwider.
Er ritt hin zur Freigebigkeit.

Wie die Keuschheit lustvoll die Wollust erstach

Keuschheit (kusche) und Wollust (unkuschekeit) kämpfen einen brutalen und tödlichen Zweikampf miteinander.

Der Teufel versucht, die personifizierte Keuschheit mit Schmeicheleien von ihrer Enthaltsamkeit abzubringen. Diese lässt sich jedoch nicht überzeugen. Sie wird daraufhin von der personifizierten Wollust angegriffen und in einen Kampf verwickelt. Der Schlagabtausch erfolgt rasch und eindeutig. So begibt sich die Wollust schnell (balde) zum Kampf, während Frau Keuschheit in den Kampf prescht (sprangte) und eine Lanze namens keusche Begierde (reine girde) in den Körper der auf dem Pferd sitzenden Wollust sticht und diese tötet.

Inhalt

Nur wer Tugenden im Herzen trägt und sich vorbildlich verhält, findet seinen Weg zu Gott. Der Gegner Gottes ist der Teufel und die Gegenspielerinnen der Tugenden sind die Laster: Was liegt also näher, als Tugenden und Laster gegeneinander kämpfen zu lassen, um die Versuchungen des Teufels für den Menschen zu visualisieren? Der Geistliche Streit zeigt eine solche Schlacht, indem eine Vielzahl an Tugenden und Lastern gegeneinander im Zweikampf antreten. Ganz im Sinne der moralischen Botschaft behalten die für Gott kämpfenden Tugenden die Oberhand und besiegen ihre Gegnerinnen.

Und sonst?

Die Erzählung ist eine Handlungsanweisung für den gläubigen Menschen, wie er sich den Versuchungen des Teufels erwehren kann. Mit dem Tugend- und Lasterkampf wird auf ein zentrales Darstellungsmuster mittelalterlicher Personifikationsdichtung verwiesen: die kämpferische Auseinandersetzung von Personifikationen nach dem lateinischen Vorbild der Psychomachia von Prudentius.

T. Brück, J. Schels, V. Weisgerber

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