Personifikationen

Musica nach Boethius

Kunst und Wissenschaft

Wie verpacke ich einen komplexen Sachverhalt?

Auf diese – manchmal schwierige – Frage gibt der Magnus liber organi (Großes Buch des Organum) eine simple Antwort: in einem Kleid. Direkt auf der ersten Seite zeigt er uns Musica – gekrönt und in edlem Gewand. Tatsächlich erscheint die personifizierte Musiktheorie gleich dreimal und erweist sich damit als Verkörperung der Lehre des Boethius: Um die Musik in ihrer Vollkommenheit zu erfassen, unterteilte er sie in drei Arten.

Gespaltene Persönlichkeit?
Aus eins mach drei!

Die Überlegungen des Boethius, der um 500 lebte, waren im westlichen Mittelalter wohlbekannt und fanden so noch Jahrhunderte später Eingang in die vorliegende Handschrift. Die Buchmalerei mit den drei Personifikationen ist zeilenweise von oben nach unten zu betrachten: Im obersten Register geht es um die musica mundana, die kosmische Sphärenmusik. Boethius beschreibt, wie sich Sterne und Planeten unmöglich in ihren hohen Geschwindigkeiten fortbewegen können, ohne dabei Geräusche zu erzeugen. Diese Töne sind für den Menschen jedoch nicht wahrnehmbar. Die mittleren Bildfelder zeigen die musica humana. Die menschliche Musik bezeichnet eine innere Harmonie, die in jeder Person die körperlose Vernunft (bei Boethius lateinisch: ratio) mit dem physischen Körper verbindet. In der unteren Zeile ist die musica instrumentalis dargestellt. Die klingende Musik wird von Instrumenten erzeugt und ist die einzig hörbare. In dieser Weise steht jede Art von Musik für sich. Dies wird durch die strenge, rasterartige Unterteilung des Bildes hervorgehoben. Jedoch löst die alternierende Farbgebung diese starre Einteilung auf: So wechseln neben dem Hintergrund auch der Thron und die Kleidung von Musica die Farben. Boethius’ Vorstellung, dass die drei Arten nur in ihrem Zusammenschluss die Musik als gesamtkosmisches Phänomen beschreiben können, wird also auch durch die Farbgebung visualisiert.

S. Knecht
Thronende Personifikation zeigt mit Zeigestock auf Kosmos

Musica mundana

Musica umfasst mit ihrer rechten Hand einen weißen Zeigestock. Er findet in jedem Register Einsatz und bildet die Verbindung zwischen den nebeneinander stehenden Bildfeldern, also der Personifikation links und dem szenischem Schaubild rechts. Die Personifikationen tragen hier keine Attribute, die rechte Darstellung macht also deutlich, welche Art der Musik gemeint ist: Neben der musica mundana ist der Kosmos zu sehen.

Thronende Personifikation zeigt mit Zeigestock auf vier männliche Figuren

Musica humana

Musica hält den Stab waagerecht und blickt in Richtung der beige und rot gekleideten Figuren. Anhand ihrer Frisuren lassen sie sich unterschiedlichen Gemeinschaften zuordnen: Die Tonsur zeichnet die Kleriker aus, während die zwei anderen Figuren vermutlich Laien darstellen. Aus dieser Konstellation ergibt sich, dass sich je ein Laie und ein Kleriker ansehen und angeregt unterhalten.

Thronende Personifikation zeigt mit Zeigestock auf musizierende Figur

Musica instrumentalis

Die letzte Personifikation hält den Lehrstab mit links. Die rechte Hand tritt mehr in den Fokus, da sie in einer Aufmerksamkeit einfordernden, mahnenden Geste erhoben ist. Der Appell ist an die musizierende Figur gerichtet, die sich – so ist, ausgehend von den dargestellten Instrumenten, zu vermuten – in einem höfischen Musikzimmer aufhält und wahrscheinlich weltliche Musik spielt. Weltliches Musizieren ist in einem religiösen Kontext negativ zu bewerten und muss deshalb gezügelt werden – insbesondere in einem Buch mit liturgischen Gesängen.

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