In seinem Werk De consolatione philosophiae, Trost der Philosophie, schildert der spätantike Gelehrte Boethius das Zwiegespräch mit Philosophia. Sie sei ihm in einer Vision erschienen, während er krank und des Verrats beschuldigt im Kerker saß. Die Schuld für sein Unglück trage Fortuna, wie er klagt, doch Philosophia widerspricht und weist darauf hin, dass es das Wesen Fortunas sei, Glück zu geben und zu nehmen, also keine Beständigkeit von ihr zu erhoffen sei.
„Du versuchst den Schwung des rollenden Rades aufzuhalten? Aber, törichtester aller Sterblichen, wenn sie anfängt zu beharren, hört sie auf Zufall zu sein.“ - De consolatio philosophiae, II, 1 (Übersetzung Gegenschatz/Gigon)
Die Buchmalerei zeigt den Dialog zwischen Boethius und Philosophia über die Macht der Schicksalsgöttin Fortuna. Boethius liegt im Krankenbett, neben ihm sitzt die bekrönte Philosophie, die Herrscherin über Wissen und Bildung. Die Gesten des Boethius veranschaulichen die Gesprächssituation. Philosophia wiederum zeigt nach rechts auf Fortuna, den Gegenstand des Dialogs. Das rollende Rad, das Fortuna an seinen Speichen bewegt, versinnbildlicht das beständige Auf und Ab des Glücks und ist ihr wichtigstes Attribut. Eine Augenbinde versperrt ihr die Sicht auf die Welt, wodurch ihre willkürliche Natur verdeutlicht wird, von der alle gleichermaßen betroffen sind. Hierauf verweisen die auf dem Rad erkennbaren silhouettenartigen Gestalten: Oben, am höchsten Punkt, thront eine durch Krone, Reichsapfel und Schwert als Herrscher ausgewiesene Figur. Die übrigen befinden sich auf dem sie nach unten befördernden Rad oder bereits im freien Fall. Es ist absehbar, dass auch der König herabstürzen wird. Die personifizierte Fortuna ist es also, mit der Boethius die Wende seines Schicksals zu erklären sucht: Er kann der unvermeidlichen Bewegung des Rades nicht entkommen, auf dessen höchsten Punkt er sich einst befand und das ihn nun in die Tiefe befördert hat.