Zentral ins Bild gesetzt, thront die Personifikation der Philosophie auf beiden Darstellungen als Quelle der Artes liberales, der sieben Freien Künste. Doch welche Botschaft verbirgt sich hinter diesen Darstellungen? Auf den ersten Blick scheinen die aus dem 12. Jahrhundert stammenden Bilder kompliziert und unübersichtlich zu sein. Bei genauerer Betrachtung vermag die diagrammatische Darstellung jedoch das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen der Philosophie und den sieben Freien Künsten nicht nur auf der Ebene des Bildhaften, sondern auch durch Beischriften zu veranschaulichen.
„Omnis sapientia a Deo Domino est.” – Alle Weisheit geht von Gott aus.
(Sir 1,1)
Von der Brust der gekrönten Philosophia gehen sieben Ströme zu den weiblichen Personifikationen der Freien Künste aus, die sie umgeben und unter ihrer Obhut stehen. Die Zweiteilung der Ströme verweist auf die Gliederung in das Trivium, die redenden, logischen Disziplinen (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und das Quadrivium, die rechnenden, physikalischen Disziplinen (Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie), gemeinsam bildeten sie das Grundgerüst mittelalterlicher Bildung. Welche Rolle die Philosophie hierbei spielt, wird durch den Inhalt des in ihren Händen liegenden Schriftbandes auf der Darstellung im Hortus Deliciarum deutlich: Sie erfährt nach dem biblischen Vers Sirach 1,1 eine Umdeutung als Sapientia (Weisheit). Die von ihr ausgehenden Ströme sind somit als Quellflüsse der Weisheit zu verstehen (Sirach 1,5), welche die ihr unterworfenen Künste nähren. Im Sinne einer umfassenden Wissenschaft tritt Philosophia also auch als fürsorgende Mutter der Artes liberales in Erscheinung. Darüber hinaus erfahren letztere durch die Beischrift rechts von Philosophia eine Anbindung an den Heiligen Geist als ihren Schöpfer – eine Anspielung an die sieben Geistgaben (nach Jes 11,2), denn die Philosophie und die Freien Künste stehen im Mittelalter im Dienste des christlichen Glaubens.