Dr. Nicole Fritz

Kunst- und Kulturwissenschaftlerin

Dr. Nicole Fritz ist seit 2018 Direktorin und alleiniger Vorstand der Stiftung Kunsthalle Tübingen. Von 2011 bis 2018 war sie Gründungsdirektorin des Kunstmuseums Ravensburg, das von der Internationalen Vereinigung der Kunstkritiker, AICA, zum Museum des Jahres 2015 ernannt wurde. In ihren Ausstellungen greift sie kunstimmanente wie gesellschaftliche Fragestellungen auf, die Erkenntnisse über die Entwicklung des Menschen und sein kulturelles Erbe ermöglichen.

Bezug / Arbeitsfeld / Interessen

In welchem Zusammenhang arbeiten Sie über Fragen der Ästhetik / Kunst?

Ich bin Ausstellungsmacherin und arbeite als Mittlerin zwischen Künstler:innen und Publikum. Mittlerweile konnte ich über 100 Ausstellungen realisieren, in denen ich auch Themen aufgreife, die den Besucher:innen mittels Kunst Einblicke und Erkenntnisse über die conditio humana ermöglichen.

Was interessiert Sie dabei am meisten?

Mich fasziniert Kunst, weil sie eine nichtsprachliche Ausdrucksform ist. Sie spricht uns über die Sinne an und ermöglicht es uns, mit uns selbst und mit anderen in Resonanz zu gehen. Gerade in einer von Digitalisierung geprägten Welt bietet der Umgang mit Kunstwerken eine Möglichkeit, ein authentisches, unmittelbares Erlebnis zu kreieren. Darin liegt das Potential, die vormoderne aber auch Gegenwartskunst zu bieten hat: Sie kann Herzen öffnen und unseren Gedanken Flügel verleihen. Dieses Potential der Kunst an möglichst viele Menschen zu vermitteln, ist mir ein großes Anliegen

Haben Sie ein ,Lieblingswerk‘? Warum gerade dieses?

Generell bin ich auf der Suche nach dem intensiven künstlerischen Ausdruck. Ich bin dabei nicht festgelegt auf einen individuellen Stil. Mich elektrisieren künstlerische Positionen, die tiefe menschliche und spirituelle Erfahrungen materialisieren. Künstler und Künstlerinnen, die eine existentielle Sinnsuche im Bereich der Ästhetik betreiben, wie Marina Abramović, Birgit Jürgenssen oder Joseph Beuys finde ich sehr inspirierend. 

Kunst / Kunstbegriff / Kunstverständnis

Was macht Kunst aus?

Mich fasziniert Kunst, weil sie eine nichtsprachliche Ausdrucksform ist. Die Kunst liefert uns als nonverbale Symbole für das ,Unsagbare‘, das Leben der Gefühle, das Gegenstand der Kunst ist.

Wie ,funktioniert‘ Kunst?

Kunst unterliegt anderen Gesetzen als Sprache. So nehmen wir Kunst nicht wie einzelne Buchstaben nacheinander auf – sondern der Ausdruck und Sinn erschließt sich uns unmittelbar als Ganzes. Die Idee in einem Kunstwerk verstehen, so die Philosophin Susanne K. Langer, gleicht daher mehr dem Erleben einer neuen Erfahrung als einem logisch satzmäßigen Verstehen.

Was leistet Kunst?

Der Mensch ist mit Beuys gesprochen ja nicht nur ein „Kotelettfresser“, sondern ein Wesen mit Körper, Geist und Seele, das sich entwickeln möchte. Kunst machen und anschauen hilft uns, unsere sinnliche Wahrnehmung zu schulen, mit unseren Emotionen in Kontakt zu kommen, diese zu verarbeiten, um so letztlich mehr Bewusstsein zu erlangen.

Gesellschaft / Relevanz / Wissenschaft

Welche Rolle spielt Ästhetik / Kunst in unserer Gesellschaft?

Seit einigen Jahren entdecken immer mehr Menschen Kunst als Geldanlage und Unterhaltung, diese Ökonomisierung und Popularisierung der Kunst hat ihr nicht unbedingt gutgetan.

Welche Rolle sollte Ästhetik / Kunst in unserer Gesellschaft spielen?

Kunst machen und darüber reflektieren kann helfen, sich in der Welt zu verorten und die menschlichen Fähigkeiten wie Fantasie, Kreativität und Intuition bewusst zu trainieren. Jede Stadt sollte sich solche „Spielorte der Kunst“ leisten und diese pflegen, damit wir nicht zu seelenlosen Maschinen werden.

Welche Rolle sollte die Wissenschaft in diesem Kontext spielen?

Als Kuratorin betrachte ich Kunst auch aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive – als ,nervöses Auffangorgan‘ des inneren und äußeren Lebens (Aby Warburg). Als solche spiegeln Kunstwerke immer auch die gesellschaftliche Haltung und Einstellung ihrer Zeit wieder. Diese zu erforschen und möglichst vielen Menschen sichtbar, verstehbar zu machen, kann für mich aber auch für die Gesellschaft erkenntnisbringend und sinnstiftend sein.

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